Das Auf und Ab der Story: Erzählerische Höhenprofile

Das Hoch und Runter einer Geschichte ist nicht immer metaphorisch zu verstehen. Bei Berichten über Bergtouren gesellen sich zu den erzählerischen Tief- und Höhepunkten solche, die eine Entsprechung in der geografischen Welt haben: Man startet unten im Tal, steigt langsam über die Alpen und Schutthalden hoch zum Gipfel. Dann geht’s wieder runter. Aber wird die Geschichte auch so erzählt? Die erzählerischen Freien würde ja auch eine andere Reihenfolge erlauben:

„Der Blick vom Gipfel war ja atemberaubend und ließ den Schrecken des Aufstiegs vergessen! Wir ahnten ja nicht, dass uns das Drama erst noch bevorstand… Doch beginnen wir mit dem hoffnungsvollen Start am frühen Morgen.“

Oder so ähnlich…

Doch wie sieht die Praxis aus? Wir analysierten und visualisierten 104.000 Bergsteigerberichte der Website hikr.org, um das typische „erzählerische Höhenprofil“ dieser Tourenberichte zu berechnen.

Dafür unternahmen wir folgende Schritte:

  1. Die Hikr-Berichte sind mit reichhaltigen Metadaten garniert, darunter meistens mit Wegpunkten, also Koordinaten und dazugehörigen Ortsbezeichnungen, der Tour. Diese lasen wir aus und versuchten sie im Text automatisch zu identifizieren. Dabei kämpft man natürlich mit Schreibvarianten zwischen offizieller Ortsbezeichnung und Nennung im Text.
  2. Die Wegpunkte geben uns auch die Höhenlage. Durch die Identifikation der Wegpunkte im Text wissen wir nun, an welchen Positionen der Geschichte welche Wegpunkte mit welcher Höhenangabe genannt werden.
  3. Die Geschichten sind unterschiedlich lang. Daher speichern wir nun zu jedem Wegpunkt die relativen Positionen, an denen er in den Geschichten vorkommt.
  4. Wir berücksichtigen sodann nur Geschichten, in denen wir mindestens acht Wegpunkte im Text identifiziert haben und die eine minimale Höhendifferenz von 500 Metern aufweisen – wir wollen ja Bergbesteigungen, nicht Höhen- oder Talwanderungen…
  5. Jetzt können wir ein Diagramm erstellen, um zu sehen, an welchen Positionen der Geschichten welche Wegpunkte und damit Höhenangaben auftreten.

Hier ist das Diagramm:

Leider nutzen die Hikr-Geschichten im Durchschnitt die erzählerisch-dramaturgischen Potenziale nicht wirklich… Die Geschichten starten normalerweise mit den tiefer gelegenen Orten, ziemlich genau in der Mitte wird dann exzessiv über die hoch gelegenen Orte geschrieben, danach geht es wieder runter. Das sieht man deutlich an der schwarzen Linie, die als Lowess-Anpassungslinie die Punkte zusammenfasst.

Aber im Detail: Die x-Achse zeigt die relative Position in der Geschichte. Auf der y-Achse ist die relative Höhe abgetragen: Wir setzten also pro Geschichte alle Höhenangaben in relative Angaben um, wobei der am tiefsten genannte Ort bei 0, der höchste bei 100 liegt. Die Hundwieler-Höhe als Gipfelziel in der einen Geschichte ist also relativ gleich hoch wie das Matterhorn in der anderen.

Die Größe des Punktes gibt an, wie häufig der Wegpunkt in den Daten insgesamt vorkommt. Die Titel der Berichte, in denen normalerweise das Ziel der Tour, also der hohe Gipfel, genannt wird, ließen wir weg. Zudem markierten wir pro Geschichte jeweils den höchsten Punkt als „Top Peak“.

Man sieht nun:

  • Die Wegpunkte ganz unten (also die Ausgangspunkte der Touren) und die ganz oben (also die Gipfelziele) gehören zu den häufigst genannten (also bekannten) Wegpunkten im Korpus (große Punkte im Diagramm).
  • Dazwischen gibt es bestimmte Schichten von ebenfalls eher bekannten Wegpunkten, die wichtige Zwischenetappenziele zu sein scheinen.
  • Eher am Anfang und Ende der Berichte werden Wegpunkte auf allen Höhen genannt.
  • Die wichtigen Startpunkte werden eher zu Beginn und am Ende der Berichte erwähnt (in der unteren Zeile von großen Punkten gibt es in der Mitte der Geschichten weniger Punkte).
  • Die Gipfelziele werden über die ganzen Berichte hinweg immer wieder genannt (oberste Zeile).
  • Die eingezeichneten Lowess-Anpassungslinien (schwarz: alle Daten; grau: ohne jeweils höchste Erhebung „Top Peak“) zeigen noch deutlicher den Trend: Ziemlich genau in der Mitte der Geschichten werden die höchsten Wegpunkte genannt, zu Beginn und Ende die tieferen, wobei gegen Ende die tiefsten genannt werden. Die schwarze Lowess-Anpassungslinie, die alle Daten berücksichtigt, liegt dabei logischerweise höher als die graue, die keine „Top Peaks“ enthält, die Verläufe der Kurven ähneln sich aber.
  • Wegpunkte, die noch in der Mitte der Berichte auftauchen und auf unteren und mittleren Höhenlagen liegen, sind generell selten genannte Orte.

Dass die Hikr-Daten so aussehen, ist nicht sehr überraschend, schließlich weisen sie einen ausgeprägten Service-Charakter auf und wollen wahrscheinlich nicht unbedingt spannende Geschichten erzählen. Methodisch handelt es sich bei unserer Studie jedoch um den Versuch, Narration korpuslinguistisch besser fassen zu können und die Verwobenheit von Text und extratextuellen Aspekten aufzuzeigen. Vielleicht finden wir ja mal noch spannendere Geschichten…


Die Studie, von der das erzählerische Höhenprofil nur ein kleiner Teil ist, erscheint demnächst in: Bubenhofer, Noah/Rothenhäusler, Klaus (eingereicht): „Die Aussicht ist grandios!“ – Korpuslinguistische Analyse narrativer Muster in Bergtourenberichten. In: Eller-Wildfeuer, Nicole/Rössler, Paul/Wildfeuer, Alfred (Hg.): Alpindeutsch. Regensburg (Sprachen im Kontakt).